Text zu der Fotoserie „fleischlich“, 2000

Die großformatigen Fotografien von Karin Kerkmann zeigen Nahaufnahmen von organisch körperlichen Objekten. Es sind Aufnahmen von Arealen des menschlichen Körpers in warmer fleischiger Farbigkeit. Deutlich sichtbar ist die porige, pigmentierte, glatte Oberflächenstruktur der Haut. Auf einigen Bildern ist ein rötlicher, in seiner Form variierender Glaskörper zu erkennen. Die Fotografien sind spiegel-symmetrisch gestaltet und besitzen eine ausgewogene Komposition. Die Herkunft der abgebildeten körperlichen Areale läßt sich nicht ermitteln. Der Betrachter ist zunächst von der fleischlichen Farbigkeit provoziert und versucht sich visuell zu orientieren. Das Suchsystem des Auges tastet die Bilder nach vertrauten, erinnerbaren Partien ab und versucht diese Fragmente einem ganzheitlichen Körperbild „einzuverleiben“. Das Ausgerechnet vertraute Formulierungen, Wölbungen, Furchen, Strukturen, Linien. Je nach den Bezügen die der Betrachter durch momentane Zuordnung erstellt, entsteht ein anderes Gefüge innerhalb des Bildes. Beim Zusammenziehen der einzelnen Bildareale zerfallen diese imaginierten Formen aber immer wieder, zugunsten anderer, mit ihnen unvereinbaren, genauso wahrscheinlichen Körperprojektionen.

Der Spannungszustand, in den die Bilder den Betrachter versetzen, ist ein Komplex ständig wechselnder Teilwahrnehmungen. Seine Bezugsstruktur ist eine visuell vermittelte ganzheitliche Körperwahrnehmung. Er erlebt kontinuierlich ein „nicht zuweisen können“, vertrauter Hautpartien mit nicht vertrauten, unbekannten, unbewußten Bereichen und wird irritiert. Die Irritation entsteht aus einer wechselnden, sich momethaft einstellenden Erfassung der verschiedenen Flächen. Diese wird übersprungen, indem ein neues, scheinbar vertrautes Areal visuell ertastet wird. Das im phantasievollen Zuordnen und Ergänzen geschulte Auge wird immer wieder neu gelockt und verunsichert und gerät so in eine Endlosschleife. (Was wir sehen wollen, ist nicht sichtbar.) Darüber hinaus provozieren die scheinbar offensichtlichen Motive der Fotografien. Das Sehen des „Nackten“ im öffentlichen Raum zwingt zur Orientierung. Der im schnellen Identifizieren der allgegenwärtigen halberotischen Abbildungen geübte Betrachter, erlebt das eigene zielgerichtete Vorgehen der Motivsuche. Er überführt sich seine eigenen Projektionen, Phantasien, Vorlieben,…

Um der Verführung des Auges – etwas zu suchen, was man nicht finden kann – zu entkommen, bedarf es nun einer Distanzierung. Distanz gewinnt der Betrachter in dem er die Aufnahmen nicht mehr als das Abbild des menschlichen Körpers zu deuten versucht.

Doch damit ist die Körperreise keineswegs beendet. Durch die Objektivierung des Dargestellten eröffnen die Bilder erstaunliche Assoziationsräume. In Augenhöhe gehängt und durch suggestiven Realitätsgrad der Fotografie wird der Betrachter in den Bildraum hineingezogen. Landschaften, Räume, aber auch konkrete gegenständliche Formationen lassen sich in den einzelnen Bildern erkennen. Diese „freiere“, assoziative Annäherung lässt auch die unterschiedlichen Atmosphären und Spannungen in den Bildern wahrnehmbar werden.

Man würde die Arbeit allerdings mißverstehen, beschränkte man die Herausforderung des Betrachters auf das Sehen von Körperlandschaften, offener oder verschlossener Situationen. Vielmehr geht es Karin Kerkmann um die Visualisierung von Kommunikationsvorgängen. Die Künstlerin beansprucht die visuell vermittelte körperliche Erfahrung des Betrachters, die meist unbewußte „Wahrnehmungsarbeit“ des Sehens und Beurteilens der Körperoberfläche.

Die Subzeichen, welche wir bei einer Begegnung mit einem anderen Menschen über seine äußere Erscheinung „lesen“. Die unbestimmte Vertrautheit dieser „Zeichen“ kommt der Absicht entgegen, die oftmals nicht eindeutig zu charakterisierenden, komplexen Vorgänge der Kommunikation in Bilder zu übersetzen. Die Räume in denen diese Vorgänge visuell erlebbar gemacht werden sind die ausgewogenen, zum Teil landschaftlichen Körpermotive. Die Haut formuliert die Körperoberfläche und konditioniert die Volumina der Körper. Zugleich ist sie Grenzfläche von Innen nach Außen.

Die auf den Bildern wahrnehmbaren Prozesse beschreiben weniger konkrete Techniken kommunikativen Verhaltens, vielmehr werden ganz bewußt Grenzsituationen untersucht. Momente der Kontaktaufnahme wo zwischen aktiv und passiv, bewußter Aufnahme und Infiltration schwer zu unterscheiden ist; verschiedene Impulse miteinander konkurieren. Innerbalb dieser Prozesse erscheint der rötlich getönte Glaskörper als wirkendes Element, welches eindringt, verletzt, ausbricht, saugt bzw. das aufgenommen, hineingezogen, festgehalten wird, …

Die Herrausforderung für den Betrachter besteht in dem sich einlassenden Sehen, dem Überlassen der eigenen, beweglichen, gegenwärtigen Wahrnehmung. Erstaunlich ist die Überzeugungskraft unserer visuellen Erfahrung, etwas zu sehen, wie es wirkt, ebenso wie das „Bewußtwerden“ der Komplexität des Dargestellten. Dabei vollziehen sich die erzeugten Bewegungen und Energien nicht nur an den Formen selbst, sondern auch in unserer Sehauffassung. Die Erkenntnis soll aus der Erfahrung der Anschauung entstehen.

Die Faszination der Aufnahmen von Karin Kerkmann bestehen in der Präzision ihrer Annäherung. Der Annäherung an die Visualisierung der differenzierten Prozesse von Kommunikation. Sie benutzt hierzu die „Sprachfähigkeit“ der menschlichen Körperoberfläche. Dabei werden nicht nur Ergebnisse bzw. Spuren von Kommunikation sichtbar, sondern die komplexen Vorgänge visuell erlebbar gemacht.

 

(Berlin, Mai 2000 – Kristian Jarmuschek)