Text von Frances Arnold, 2022

Wo sich Erfahrung und Imagination treffen

 

Die Arbeiten von Karin Kerkmann bewegen sich zwischen quasi erkennbaren Körperlandschaften, Lichtprojektionen architektonischer Kompositionen und rätselhaften amorphen Organismen und spielen an der Grenze von Wahrnehmung, Vorstellung und Konnotation.

 

Durch Fotografie, Installation und Malerei macht die Künstlerin die mentale Grenze zwischen unserer inneren Gefühls- und Erfahrungswelt und der äußeren, physischen, greifbaren, berührbaren und konkreten Welt sichtbar. Indem sie die Konventionen der Wahrnehmung – also der Verarbeitung von Informationen über die Welt in uns und um uns herum – durchbricht, erforscht die Künstlerin eine faszinierende visuelle Sprache, die in der Wirklichkeit verwurzelt ist, aber von den eigenen Annahmen, Erwartungen und Vorstellungen der Betrachter geprägt wird. Dabei deckt sie alternative Realitäten und erweiterte Möglichkeiten auf, während sie gleichzeitig die Modalitäten der visuellen Kommunikation hinterfragt.

 

Abstraktionen des menschlichen Körpers sind ein wiederkehrendes Thema in Kerkmanns Werk. In der Fotoserie fleischlich (2000) nehmen nicht identifizierte Körperteile die Gesamtheit der großformatigen Abzüge ein, gespiegelt und zusammengefügt wie durch ein Kaleidoskop betrachtet. Alle Nahaufnahmen von gefaltetem Fleisch, Sommersprossen und Haut sind verlockend vertraut und doch unmöglich zuzuordnen. Sie umschiffen die Grenzen der Bedeutung und bewegen sich vor dem geistigen Auge zwischen Erotik, Schönheit, Unsicherheit und mehr.

 

In der Installation INBETWEEN I (2002) bringt das Medium Licht noch mehr Unbestimmtheit und Unklarheit in das, was uns am vertrautesten ist – den menschlichen Körper. In einen dunklen Raum werden überdimensionale Bilder von fleischigen Körperteilen projiziert, die an medizinische Röntgenbilder oder Durchleuchtungen erinnern und von hellem Licht hinterleuchtet werden. Obwohl es fast unmöglich ist, sie im wörtlichen Sinne zu lesen, umfasst die Arbeit dennoch Konzepte, die mit Körperlichkeit und dem Körper verbunden sind, einschließlich Intimität und Wärme, dank des einladenden roten Scheins der Projektionen. Gleichzeitig sorgen die Größe und die Mehrdeutigkeit der Formen für Verwirrung und Unbehagen, da das Publikum bemüht ist, zu entschlüsseln, was genau es ist, das es sieht.

 

Indem sie Körperteile isoliert einfängt, unterbricht Kerkmann den Austausch zwischen Sehen, Verstehen und Sprache, entlarvt ihn und stellt ihn zur Disposition. Ein Beispiel ist INBETWEEN II (2002), das aus bewegten Projektionen einer menschlichen Zunge besteht. Ohne die erwartete Kulisse von Zähnen, Zahnfleisch und Mandeln ähnelt das muskulöse Organ einem Weichtier, das sich scheinbar autonom bewegt. Im Widerspruch dazu stehen die der Zunge innewohnenden körperlichen Konnotationen, die von Erotik bis hin zur Kommunikation reichen.

 

Obwohl Kerkmann im Körperlichen, Objektiven und Tatsächlichen verwurzelt ist, erforscht sie in ihren Arbeiten nicht nur die alternativen Möglichkeiten von Körpern, sondern auch von Räumen. In der brandenburgischen Gemeinde Cöthen sammelte die Künstlerin Fotografien der einzigartigen und auffälligsten architektonischen Merkmale einer von Karl-Friedrich Schinkel entworfenen neoklassizistischen Kirche aus dem neunzehnten Jahrhundert. Jahrhundert, die von Karl-Friedrich Schinkel entworfen wurde. Mit dem Schwerpunkt auf Fenstern und Türöffnungen, einschließlich der transitorischen Lichtmuster, die sie im Laufe des Tages werfen, entspricht es der Praxis von Kerkmann, dass sie diesen Zwischenräumen an der Grenze zwischen Innen und Außen besondere Aufmerksamkeit widmet. In der daraus resultierenden ortsspezifischen Installation Transition (2017) werden diese verschiedenen Elemente zu Dias zusammengefasst und in den Raum zurückprojiziert. Das Innere der Kirche wird nur mit seinen eigenen Bestandteilen neu konfiguriert, was sowohl seine Grenzen als auch seine Möglichkeiten vorübergehend erweitert und die Besucher dazu einlädt, den Raum neu wahrzunehmen.

 

In Kerkmanns Praxis werden Architektur und Körper durch das Medium der Lichtprojektion substanzlos gemacht: Sie bilden reales Fleisch, Wände, Fenster und Türen ab und entziehen sich dennoch der Berührung. Ihre Gemälde tun das Gegenteil: Strange Beings (2021) umfasst Aquarelle nebulöser Wesen, deren Form oder Nicht-Form nicht durch eine feste materielle Ähnlichkeit bestimmt wird, sondern durch die Spontaneität und Improvisation ihres Mediums und Prozesses. In einer gedämpften, begrenzten Palette von überwiegend Rosa-, Blau- und Brauntönen verleihen durchscheinende Schichten den Wesen eine diaphanische Qualität. So wie sich ihre frühen fotografischen Serien einer exakten Präzision entziehen, deuten diese gemalten Formen eine Vielzahl von Möglichkeiten an. Die tentakelartigen Gliedmaßen und Antennen, die aus den Formen herauswachsen, sich aufblähen oder strecken, könnten als Organismen unter dem Mikroskop, als Meeresbewohner, als Außerirdische oder als – durchgehen. Als organische, belebte Wesen, denen eine unheimliche Vertrautheit innewohnt, die mit unserem Wiedererkennungswert spielt, schweben sie an der Schnittstelle zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.

 

Kerkmann geht es darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen: die Konvergenz zwischen Wissen, Erfahrung und Tatsachen und die unendlichen Möglichkeiten, die das geistige Auge hervorruft. Der Effekt ist entwaffnend: Trotz ihrer scheinbaren Verständlichkeit necken, umschiffen und umgehen ihre Innenräume, Körper und amorphen Kreaturen die Klärung und sondieren so Prozesse des Verstehens und der Wahrnehmung.

Frances Arnold

TEXT from FRANCES ARNOLD, 2022

Where Experience and Imagination Meet, 2022

Spanning quasi-recognizable bodyscapes; light projections of architectural composites; and mysterious amorphous organisms, the artwork of Karin Kerkmann plays at the edge of cognition, conjecture, and connotation.

Through photography, installation, and painting, the artist makes visible the mental boundary be-tween our inner world of feelings and experience, and the outer: the physical, tangible, touchable, and concrete. By disrupting conventions of perception — that is, the processing of information about the world both within and around us — the artist probes an intriguing visual language that is rooted in actuality, yet characterized by viewers’ own assumptions, expectations, and imagination. In doing so, she uncovers alternate realities and expanded possibilities, all the while questioning modes of visual communication.

Abstractions of the human body are a recurring subject in Kerkmann’s work. In the photographic series fleischlich (2000), unidentified body parts occupy the entirety of large-scale prints, mirrored and conjoined as if viewed through a kaleidoscope. All close-up images of folded flesh, freckles, and skin they are tantalizingly familiar yet impossible to place, skirting the edges of meaning, and in the mind’s eye flitting between eroticism, beauty, uncertainty, and more.

In installation piece, INBETWEEN I (2002), the medium of light instils further elusiveness and ambi-guity into that with which we are most intimate — the human body. Suggestive of medical x-rays or transilluminations, oversized images of fleshy body parts backlit by bright light are projected into a dark room. Though all but impossible to read in a literal sense, the work nevertheless embraces concepts tied to physicality and the body including intimacy and warmth, thanks to the projections’ inviting red glow. At the same time, the shapes’ size and ambiguity spark confusion and unease, as their audience strains to decipher exactly what it is they are seeing.

By capturing body parts in isolation, Kerkmann disrupts, exposes, and throws open the interchange between seeing, understanding, and language. Take INBETWEEN II (2002), which comprises moving projections of a human tongue. Stripped of its expected backdrop of teeth, gums, and tonsils the muscular organ resembles a mollusc, animated in seemingly autonomous movement. At odds are the tongue’s intrinsic corporeal connotations that span everything from eroticism through to com-munication.

Although rooted in the physical, the objective, and the actual, Kerkmann’s work explores alterna-tive possibilities of not just bodies, but also spaces. In the municipality of Cöthen, Brandenburg, the artist amassed photographs of the unique and most striking architectural features of a nineteenth-century neoclassical church designed by Karl-Friedrich Schinkel. With a focus on windows and doorways, including the transitory light patterns that they cast throughout the day, it is in keeping with Kerkmann’s practice that she pays particular attention to these in-between places at the border of inside and out. In the resultant site-specific installation, Transition (2017), these various elements are consolidated into slides and projected back into the space. Using only its own components, the interior of the church is reconfigured, temporarily expanding both its peripheries and possibilities, and inviting its visitors to perceive the space anew.

Across Kerkmann’s practice, architecture and the body are rendered insubstantial through the medium of light projection: depicting real flesh, walls, windows, and doors, they nevertheless elude touch. Her paintings do the opposite: Strange Beings (2021) comprises aquarelle works of nebulous entities, whose shape or non-shape is dictated not by fixed material likeness, but by the spontaneity and improvisation of their medium and process. In a muted, restricted palette of predominantly pinks, blues, and browns, translucent layers lend the beings a diaphanous quality. Just as her early photographic series evade pinpoint precision, these painted forms hint at multiple possibilities. All tentacle-like limbs and antennae offshoots of shapes distended, inflated, or stretched, they could pass as organisms under a microscope, or sea creatures, or aliens, or —. Appearing as organic, animate beings, each imbued with an uncanny familiarity that plays on our sense of recogni-tion, they float around the meeting point between imagination and reality.

Kerkmann is concerned with making the invisible, visible: the convergence between knowledge, experience, and fact; and the infinite possibilities conjured by the mind’s eye. The effect is disarming: despite their ostensible intelligibility, her interiors, bodies, and amorphous creatures tease, swerve and sidestep clarification, and in doing so, probe processes of understanding and perception.

Frances Arnold

Text zu der Fotoserie „fleischlich“, 2000

Die großformatigen Fotografien von Karin Kerkmann zeigen Nahaufnahmen von organisch körperlichen Objekten. Es sind Aufnahmen von Arealen des menschlichen Körpers in warmer fleischiger Farbigkeit. Deutlich sichtbar ist die porige, pigmentierte, glatte Oberflächenstruktur der Haut. Auf einigen Bildern ist ein rötlicher, in seiner Form variierender Glaskörper zu erkennen. Die Fotografien sind spiegel-symmetrisch gestaltet und besitzen eine ausgewogene Komposition. Die Herkunft der abgebildeten körperlichen Areale läßt sich nicht ermitteln. Der Betrachter ist zunächst von der fleischlichen Farbigkeit provoziert und versucht sich visuell zu orientieren. Das Suchsystem des Auges tastet die Bilder nach vertrauten, erinnerbaren Partien ab und versucht diese Fragmente einem ganzheitlichen Körperbild „einzuverleiben“. Das Ausgerechnet vertraute Formulierungen, Wölbungen, Furchen, Strukturen, Linien. Je nach den Bezügen die der Betrachter durch momentane Zuordnung erstellt, entsteht ein anderes Gefüge innerhalb des Bildes. Beim Zusammenziehen der einzelnen Bildareale zerfallen diese imaginierten Formen aber immer wieder, zugunsten anderer, mit ihnen unvereinbaren, genauso wahrscheinlichen Körperprojektionen.

Der Spannungszustand, in den die Bilder den Betrachter versetzen, ist ein Komplex ständig wechselnder Teilwahrnehmungen. Seine Bezugsstruktur ist eine visuell vermittelte ganzheitliche Körperwahrnehmung. Er erlebt kontinuierlich ein „nicht zuweisen können“, vertrauter Hautpartien mit nicht vertrauten, unbekannten, unbewußten Bereichen und wird irritiert. Die Irritation entsteht aus einer wechselnden, sich momethaft einstellenden Erfassung der verschiedenen Flächen. Diese wird übersprungen, indem ein neues, scheinbar vertrautes Areal visuell ertastet wird. Das im phantasievollen Zuordnen und Ergänzen geschulte Auge wird immer wieder neu gelockt und verunsichert und gerät so in eine Endlosschleife. (Was wir sehen wollen, ist nicht sichtbar.) Darüber hinaus provozieren die scheinbar offensichtlichen Motive der Fotografien. Das Sehen des „Nackten“ im öffentlichen Raum zwingt zur Orientierung. Der im schnellen Identifizieren der allgegenwärtigen halberotischen Abbildungen geübte Betrachter, erlebt das eigene zielgerichtete Vorgehen der Motivsuche. Er überführt sich seine eigenen Projektionen, Phantasien, Vorlieben,…

Um der Verführung des Auges – etwas zu suchen, was man nicht finden kann – zu entkommen, bedarf es nun einer Distanzierung. Distanz gewinnt der Betrachter in dem er die Aufnahmen nicht mehr als das Abbild des menschlichen Körpers zu deuten versucht.

Doch damit ist die Körperreise keineswegs beendet. Durch die Objektivierung des Dargestellten eröffnen die Bilder erstaunliche Assoziationsräume. In Augenhöhe gehängt und durch suggestiven Realitätsgrad der Fotografie wird der Betrachter in den Bildraum hineingezogen. Landschaften, Räume, aber auch konkrete gegenständliche Formationen lassen sich in den einzelnen Bildern erkennen. Diese „freiere“, assoziative Annäherung lässt auch die unterschiedlichen Atmosphären und Spannungen in den Bildern wahrnehmbar werden.

Man würde die Arbeit allerdings mißverstehen, beschränkte man die Herausforderung des Betrachters auf das Sehen von Körperlandschaften, offener oder verschlossener Situationen. Vielmehr geht es Karin Kerkmann um die Visualisierung von Kommunikationsvorgängen. Die Künstlerin beansprucht die visuell vermittelte körperliche Erfahrung des Betrachters, die meist unbewußte „Wahrnehmungsarbeit“ des Sehens und Beurteilens der Körperoberfläche.

Die Subzeichen, welche wir bei einer Begegnung mit einem anderen Menschen über seine äußere Erscheinung „lesen“. Die unbestimmte Vertrautheit dieser „Zeichen“ kommt der Absicht entgegen, die oftmals nicht eindeutig zu charakterisierenden, komplexen Vorgänge der Kommunikation in Bilder zu übersetzen. Die Räume in denen diese Vorgänge visuell erlebbar gemacht werden sind die ausgewogenen, zum Teil landschaftlichen Körpermotive. Die Haut formuliert die Körperoberfläche und konditioniert die Volumina der Körper. Zugleich ist sie Grenzfläche von Innen nach Außen.

Die auf den Bildern wahrnehmbaren Prozesse beschreiben weniger konkrete Techniken kommunikativen Verhaltens, vielmehr werden ganz bewußt Grenzsituationen untersucht. Momente der Kontaktaufnahme wo zwischen aktiv und passiv, bewußter Aufnahme und Infiltration schwer zu unterscheiden ist; verschiedene Impulse miteinander konkurieren. Innerbalb dieser Prozesse erscheint der rötlich getönte Glaskörper als wirkendes Element, welches eindringt, verletzt, ausbricht, saugt bzw. das aufgenommen, hineingezogen, festgehalten wird, …

Die Herrausforderung für den Betrachter besteht in dem sich einlassenden Sehen, dem Überlassen der eigenen, beweglichen, gegenwärtigen Wahrnehmung. Erstaunlich ist die Überzeugungskraft unserer visuellen Erfahrung, etwas zu sehen, wie es wirkt, ebenso wie das „Bewußtwerden“ der Komplexität des Dargestellten. Dabei vollziehen sich die erzeugten Bewegungen und Energien nicht nur an den Formen selbst, sondern auch in unserer Sehauffassung. Die Erkenntnis soll aus der Erfahrung der Anschauung entstehen.

Die Faszination der Aufnahmen von Karin Kerkmann bestehen in der Präzision ihrer Annäherung. Der Annäherung an die Visualisierung der differenzierten Prozesse von Kommunikation. Sie benutzt hierzu die „Sprachfähigkeit“ der menschlichen Körperoberfläche. Dabei werden nicht nur Ergebnisse bzw. Spuren von Kommunikation sichtbar, sondern die komplexen Vorgänge visuell erlebbar gemacht.

 

(Berlin, Mai 2000 – Kristian Jarmuschek)